Zugabe
Eine Verletzung des vorderen Kreuzbands kommt selten allein
Zusatzverletzungen an Menisken, Knorpel und Bändern bestimmen häufig das weitere „Schicksal“:
Das vordere Kreuzband (VKB) ist ein zentrales Stabilisierungselement und spielt eine entscheidende Rolle bei der Führung und Kontrolle der Bewegung des Kniegelenks. Ein Riss des VKB ist eine der häufigsten und schwerwiegendsten Sportverletzungen – besonders bei Sportarten mit schnellen Richtungswechseln, wie Fußball, Handball oder Skifahren.
Was jedoch häufig unterschätzt wird: Eine isolierte Ruptur des vorderen Kreuzbands ist eher die Ausnahme als die Regel. In der klinischen Praxis zeigt sich regelmäßig, dass ein VKB-Riss mit Verletzungen einer oder mehrerer zusätzlicher Strukturen im Knie kombiniert ist. Diese Begleitverletzungen – insbesondere an Menisken, Gelenkknorpel und anderen Bändern – haben einen entscheidenden Einfluss auf die Prognose, Behandlungsstrategie und langfristige Gelenkgesundheit.

Verletzungsmechanismus
Ein VKB-Riss entsteht typischerweise durch eine plötzliche Valgus-/Rotationsbewegung des Kniegelenks bei fixiertem Fuß. Das kann durch ein Verdrehen beim Landen nach einem Sprung, abruptes Abstoppen, Verkanten des Schis oder ein unkontrolliertes Umknicken geschehen. Bei solchen Belastungen wirken enorme Scher- und Kompressionskräfte auf das gesamte Kniegelenk. Je nach Richtung und Intensität der Krafteinwirkung können dabei auch andere anatomische Strukturen betroffen sein:
- Menisken können gequetscht oder eingerissen werden.
- Gelenkknorpel erleiden Abscherungen oder Defekte
- Weitere Bänder – etwa das innere – (MCL) oder das äußere Knieseitenband (LCL) können mitverletzt werden.
Häufigkeit und Typen von Begleitverletzungen
1. Meniskusläsionen
Studien zeigen, dass 40–70 % der VKB-Verletzungen mit Meniskusschäden einhergehen. Das Ausmaß kann von kleinen Einrissen, komplexen Zerreißungen die ganzen Meniskussubstanz betreffend bis zu Ausrissen der Meniskusverankerung am Knochen („Meniskuswurzelrisse“) reichen.
2. Knorpelschäden
Kleine Abscherungen außerhalb der Hauptbelastungszonen sind häufig und von guter Prognose. Handelt es sich dagegen um große Knorpelausbrüche in den Hauptbelastungszonen hat dies nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf den Rehabilitationsprozess, sondern auch langfristige Folgen für das Kniegelenk
3. zusätzliche Bandverletzungen
Besonders das mediale Knieseitenband (MCL) ist gefährdet. Kombinierte Verletzungen von VKB und MCL treten in etwa 10–20 % der Fälle auf. Das MCL heilt meist konservativ sehr gut aus. Einige speziellen Verletzungsformen (z. B. knöcherne Bandausrisse, Ausrisse im Bereich der Tibia, kombinierte Risse mehrerer Bandanteile) bedürfen jedoch einer operativen Versorgung. Gerade im Bereich des MCL-Komplexes haben wir in den letzten Jahren einiges an anatomischen und biomechanischen Erkenntnissen dazu gewonnen. Seltener, aber klinisch besonders relevant, sind kombinierte Verletzungen mit dem lateralen Seitenbandkomplex (LCL und posterolateraler Komplex – PLC), da diese eine sehr schlechte Heilungspotenz aufweisen und fast immer einer operativen Therapie bedürfen.

Diagnostik
Eine präzise Diagnostik ist essenziell, um Begleitverletzungen frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu behandeln. Die eingehende klinische Untersuchung mit exakter Beurteilung von Art und Ausmaß der Instabilität ist heute wichtiger denn je. Der Seitenvergleich zur gesunden Seite ist hier sehr hilfreich.
Auch eine bildgebende Diagnostik ist unverzichtbar:
- MRT (Magnetresonanztomografie) ist der Goldstandard zur Beurteilung von Weichteilstrukturen wie Meniskus, Knorpel und Bändern.
- Röntgen dient dem Ausschluss knöcherner Begleitverletzungen einerseits und andererseits zur Einschätzung anatomischer Risikofaktoren (z. B. tibialer Neigungswinkel = „Slope“).
Therapie
Die Behandlungsstrategie hängt von der Art und dem Ausmaß der Verletzungen und den sportlichen Ansprüchen der PatientInnen ab. Im Spitzensport wird in den Medien häufig nur von einer „Kreuzbandverletzung“ gesprochen. Man wundert sich dann oft, warum die Zeit zur Sportrückkehr so unterschiedlich ist. Grund ist meist das unterschiedliche Verletzungsspektrum. Nach ausgedehnten Meniskus- oder Knorpelverletzungen und deren operativer Versorgung ist oft eine mehrwöchige Einschränkung der Belastung und/oder des Bewegungsumfangs notwendig. Das hat großen Einfluss auf den gesamten Rehabilitationsprozess, da Muskelverlust, Bildung von Narbengewebe etc. bereits aufgrund der unterschiedlichen Verletzungsmuster sehr individuell sind. Ein operativ versorgter Gelenkknorpel kann bis über ein Jahr benötigen, um den Belastungen des Sports wieder gewachsen zu sein. Das gleiche gilt übrigens auch für den Hobbysportler. Vergleiche sind daher nicht sinnvoll, wenn man das Ausmaß der Verletzung nicht wirklich genau kennt.

Verletzungsarten
- Isolierte VKB-Ruptur
Bei jungen, sportlich aktiven Patienten wird in der Regel eine operative VKB-Rekonstruktion mittels Transplantaten aus körpereigenem Sehnenmaterial (Kniebeugesehnen („Hamstrings“), Sehnenanteilen der Quadrizepssehne oder Patellarsehne durchgeführt. Bei älteren oder weniger aktiven Patienten, sowie bei speziellen Rissformen (Teilrissen oder Rissen, wo eine bestimmte Kontinuität des Bands noch vorhanden ist) kann eine konservative Therapie (=physikalische Therapie und Training) sinnvoll sein. Wenn es in weiterer Folge doch zu Instabilitätsproblemen kommen sollte, ist eine operative Versorgung jedoch unbedingt zu empfehlen.
- VKB-Ruptur mit geringen Zusatzverletzungen
Einrisse des Innenbands oder kleine Meniskusverletzungen, die nur die Entfernung eines kleinen Meniskusanteiles notwendig machen, beeinflussen die Nachbehandlung nur sehr gering. Die Behandlungsstrategie entspricht die der isolierten Verletzung. Das Tragen einer Knieschiene und eine kurze Einschränkung des Bewegungsumfangs für einige Wochen kann notwendig sein. - VKB + Meniskusläsion
Ausgedehnte Meniskusverletzungen oder Wurzelausrisse sollten, wenn möglich, unbedingt erhaltend versorgt werden. Dies wird mit unterschiedlichen Nahttechniken oder knöchernen Verankerungen durchgeführt. Die gleichzeitige Rekonstruktion des VKB ist unbedingt notwendig, da ein genähter Meniskus nur bei guter Gelenksstabilität eine ausreichende Chance zur Heilung hat. Eine Meniskuserhaltung hat oberste Priorität, um degenerative Knorpelveränderungen zu verhindern oder zumindest möglichst lange hinauszuzögern. Je nach Art der Versorgung ist das postoperativ mit mehrwöchigen Phasen der Entlastung und Limitierung des Bewegungsumfanges verbunden. - VKB + Knorpelschaden
Kleinere Knorpelläsionen können im Rahmen der OP durch Entfernung oder Setzen von kleinen Bohrungen in den Knochen zur Stimulierung von Ersatzknorpelgewebe („Mikrofrakturierung“) behandelt werden. Größere Defekte benötigen ggf. eine zweite Operation mit Knorpelzelltransplantation oder Transfer eines oder mehrerer Knorpel-Knochenzylinder („Mosaik“- oder „OATS“ Plastik). Abhängig von Größe, Lokalisation und Operationsverfahren ist eine längere Phase eingeschränkter Belastung und in weiterer Folge ein längere Einheilungs– und Stabilisierungsphase notwendig um den reparierten Knorpel ausreichend belastbar zu machen. - VKB + zusätzliche Bandinstabilitäten
Ausgedehnte bzw. spezielle Verletzungen des MCL bedürfen zusätzlicher operativer Behandlung. Dies kann von einfachen knöchernen Verankerungen, über Naht der gerissenen Bandanteile mit zusätzlicher Sehnenverstärkung bis zur vollständigen Rekonstruktion des Innenbandkomplexes mit Sehnentransplantaten reichen. Zusätzliche Verletzungen des LCL sind selten, heilen aber ohne operative Versorgung sehr schlecht. Neben der Naht oder knöchernen Verankerung der gerissenen Bandanteile ist hier meist eine zusätzliche Verstärkung mit Sehnentransplantaten notwendig. Die postoperative Nachbehandlung ist individuell anzupassen und umfasst möglicherweise eine längere Behandlung mit einer Knieschiene und Einschränkung des Bewegungsumfanges.

Zusätzliche Stabilisierungstechniken
Trotz ausgefeilter Operationstechniken kann auch ein rekonstruiertes Kreuzband wieder reißen. Je nach Sportart, Alter, Geschlecht bewegt sich das Wiederverletzungsrisiko zwischen 2 und 25%. Wir haben in den letzten Jahren auch viel über anatomische Risikofaktoren dazugelernt. Nicht jedes Knie ist gleich anfällig für Kreuzbandverletzungen. Auch wenn wir operativ nie besser als die Natur werden können, gibt es doch Möglichkeiten die Stabilität und letztlich auch die Rissfestigkeit des neuen Kreuzbands zu verbessern. Mit einer Verstärkung an der Außenseite des Kniegelenks („Laterale Tenodese“) kann die Rotationsstabilität des Knies verbessert werden und im Ernstfall etwas Belastung vom vorderen Kreuzbandersatz genommen werden. Dadurch lässt sich bei Risikopatienten das Wiederverletzungsrisiko in etwa halbieren. Dies ist ein zusätzlicher Eingriff, von dem nicht jeder profitiert. Um die Risikopatienten besser herauszufiltern und einen solchen Zusatzeingriff adäquat zu indizieren haben wir in den letzten Jahren einen Risikoscore entwickelt, der uns dabei hilft. Da die Anzahl der Einflussfaktoren hier die menschliche Kapazität übersteigt unterstützt uns hier auch künstliche Intelligenz die richtige Entscheidung zu treffen.
Prognose und Komplikationen
Die adäquate Versorgung von Begleitverletzungen ist für das Erreichen eines mittel- und langfristig guten Ergebnisses enorm wichtig. Zusätzliche operative Eingriffe sind aber manchmal mit mehr Schmerzen, Schwellung und langsamerer Entwicklung der Beweglichkeit verbunden. Mit der Komplexität neuer operativer Verfahren muss daher auch die physiotherapeutische Nachbehandlung angepasst werden. Schwellungsabbau und Muskelaktivierung sind postoperativ essenziell. Nur durch enge Zusammenarbeit zwischen Chirurg und Therapeut kann der erhöhte operative Aufwand letztlich dem Patienten wirklich nützen.
Begleitverletzungen können einen signifikanten Einfluss auf die Langzeitprognose der VKB-Verletzungen haben:
- Meniskusverlust erhöht das Arthrose Risiko deutlich.
- Knorpelläsionen können mit deutlich eingeschränkter Belastbarkeit des Kniegelenks einhergehen.
- Zusätzliche Bandinstabilitäten können zu chronischer Instabilität und Funktionseinschränkungen führen.
Fazit
Die Aussage „Eine Verletzung des vorderen Kreuzbands kommt selten allein“ trifft in hohem Maße zu. Meniskus-, Knorpel- und zusätzliche Bandläsionen sind häufige und oft schwerwiegende Begleitverletzungen, die das Ergebnis einer VKB-Verletzung wesentlich beeinflussen. Eine frühzeitige und umfassende Diagnostik sowie eine individualisierte Therapie sind entscheidend für eine erfolgreiche Wiederherstellung der Gelenkfunktion und langfristige Gelenkgesundheit. Nur durch ein interdisziplinäres (Arzt, Therapeut, Trainer) strukturiertes Vorgehen kann eine optimale Versorgung gewährleistet werden.

