Kleine Delle oder Totalschaden

Die Tibiakopffraktur

DDr. Elisabeth Abermann, FA für für Orthopädie und Traumatologie
Text: DDr. Elisabeth Abermann

Eine Tibiakopffraktur ist ein Bruch der Gelenksfläche des Schienbeins. Dieses bildet gemeinsam mit dem deutlich dünneren Wadenbein den knöchernen Unterschenkel. Am oberen Ende verbreitert sich das Schienbein zum Tibiakopf, welcher mit der inneren und äußeren Gelenksfläche den unteren Teil des Kniegelenkes darstellt. Darauf bewegt sich das walzenförmige untere Ende des Oberschenkelknochens (Femurkondyl), geführt durch Bänder und Menisken.

 

 

Auch bei normalen Bewegungsabläufen wie Springen oder Laufen wirken schon sehr hohe Kräfte auf das Kniegelenk, die ein Vielfaches des Körpergewichtes überschreiten können. Durch direkte Gewalteinwirkung oder Stürze kann die Oberschenkelrolle die Gelenksfläche des Schienbeins eindrücken (Impressionsfraktur) und spalten (Spaltfraktur), oder Teile des Tibiakopfs in Kombination mit Bandverletzungen wegbrechen (Luxationsfraktur).

Nach dem Unfall ist das Bein schnell schmerzbedingt nicht mehr belastbar, es tritt eine ausgeprägte Schwellung des Gelenkes auf und die Beweglichkeit ist stark eingeschränkt. Bereits die Schilderung des Unfallherganges und die klinische Untersuchung führen meist zum Verdacht einer Fraktur und können Aufschluss über die Wahrscheinlichkeit von Zusatzverletzungen geben. Vermutet der Arzt einen Schienbeinkopfbruch, wird primär ein Röntgenbild angefertigt. In weiterer Folge kann je nach Art der Fraktur eine Computertomographie oder eine MRT-Untersuchung zur genaueren Beurteilung von Bruch und Zusatzverletzungen notwendig sein. Die Palette geht von einem kaum sichtbaren Sprung in der Gelenksfläche mit darunterliegender Knochenprellung bis du einer völligen Deformierung der Gelenksflächen mit großen Stufen und Spaltbildungen bis weit in den Schaft des Schienbeinknochens hinunter und Verrenkungsbrüchen mit ausgeprägter Instabilität. Korrespondierend dazu reicht auch der Weichteilschaden von nur geringem Bluterguss bis zu einem drohenden Kompartment-Syndrom (durch Blutaustritt in die Muskelfaszien des Unterschenkels erhöht sich dort der Druck im Gewebe so lange bis die Blutversorgung vermindert ist und Muskeln und Nerven abgedrückt werden).

Je nach Ausmaß und Schwere der Verletzung muss dann die adäquate Behandlung geplant werden. Dies kann auch bedeuten, die Extremität vorerst nur temporär zu stabilisieren, abzuwarten bis sich der Weichteilmantel erholt und erst dann eine endgültige Versorgung durchführen zu können. So ein Vorgehen ist jedoch meist nur in sehr komplexen Fällen notwendig. Die Zeit kann man nutzen, um ein 3D-Modell aus den CT-Bildern anzufertigen, an dem die Rekonstruktion und die Positionierung der Platten vorab durchgespielt werden kann, um die folgende operative Versorgung zu optimieren.

 

Therapie

Bei kaum verschobenen Frakturen kann eine konservative Behandlung, d.h. Schienung, teilweise mit speziellen Modellen, die die gebrochene Seite des Kniegelenkes entlasten (z.B.: Donjoy Nano), ausreichend sein. In diesem Fall ist das Bein auch schnell wieder schmerzadaptiert belastbar und es kann frühzeitig mit der aktiven Rehabilitation begonnen werden.

Ist die Gelenksfläche nicht nur gebrochen, sondern auch verschoben, ist eine Operation erforderlich, um die gebrochenen Teile der Gelenksfläche wieder bestmöglich einzurichten und zu stabilisieren. Dies kann durch Schrauben oder Platten erreicht werden. Große Defekte, die besonders bei älteren Patienten mit Osteoporose auftreten, müssen mit Knochen oder Knochenersatzmaterial aufgefüllt werden. Liegen zusätzlich zum gebrochenen Knochen Weichteilverletzungen, wie Meniskus- oder Bänderrisse vor, müssen diese in der Behandlung ebenso adressiert werden. Je nach Ausmaß des Schadens kann die Operation arthroskopisch durchgeführt werden, oder muss offen erfolgen. Bei sehr komplexen Verletzungen kann auch ein zweizeitiges Vorgehen mit primär Frakturversorgung und sekundärer Bandrekonstruktion erforderlich sein. Das erste Behandlungsziel ist es, die gebrochenen Knochenstücke soweit zu stabilisieren, dass das Kniegelenk zumindest passiv bewegt werden kann, damit bleibende Bewegungseinschränkungen verhindert werden können. Zusätzlich muss das Bein für mehrere Wochen teilbelastet (abrollend belastet) werden, bis der Knochen zumindest teilweise verheilt ist. Erst dann kann mit der aktiven Rehabilitation und dem Muskelaufbau unter physiotherapeutischer Betreuung begonnen werden.

 

Prognose

Bei sehr gering verschobenen Brüchen des Schienbeinkopfes ist die Prognose in der Regel gut. Ist die Gelenksfläche stark deformiert, hängt das Ergebnis von mehreren Faktoren ab: Der Knochenqualität (Osteoporose), dem vorbestehenden Verschleiß (Arthrose) des Kniegelenkes, der knöchernen Beinachse, Unebenheiten in der Gelenksfläche, Erhaltbarkeit der Menisken, bleibenden Bandinstabilitäten und Bewegungseinschränkungen. All diese Faktoren können die beschleunigte Entwicklung einer symptomatischen Arthrose mit Einschränkung der Belastbarkeit und Sportfähigkeit, wiederholten Schmerzen und Schwellung bedingen. Ist nur die innere oder äußere Gelenkshälfte von der Abnützung betroffen, kann erneut eine Schiene, die einen etwaigen Achsenfehler zumindest teilweise korrigiert (Donjoy Nano) temporär Erleichterung verschaffen und das Potential eines Korrektureingriffes (Osteotomie) abschätzen helfen. Betrifft die posttraumatische Arthrose das gesamte Kniegelenk oder lässt die Knochenqualität eine Achskorrektur nicht mehr zu, muss das Kniegelenk teilweise oder komplett durch eine Endoprothese ersetzt werden. Dieser „Totalschaden“ tritt allerdings wesentlich seltener ein als man oft beim Anblick der Unfallbilder annehmen würde. In den allermeisten Fällen ist daher auch der primäre Rekonstruktionsversuch sinnvoll und eine Erstversorgung mittels Endoprothesen bleibt Spezialfällen vorbehalten, auch weil dann häufig Spezialprothesen eingesetzt werden müssen, die sonst nur für Prothesenwechsel benötigt werden.