Leben ala Carte – 1704

Faszinierendes Gelenk

Das empfindliche Gleichgewicht der Schulter – Von funktionellen und strukturellen Problemen zur passenden Therapie

PD Dr. Sepp Braun - Gelenkpunkt
Text: Sepp Braun

Die Schulter ist das Gelenk des Menschen mit dem größten Bewegungsumfang, das uns in seinem einzigartigen Aufbau die Erledigung sehr komplexer Aufgaben erlaubt. Man kann mit der Hand weit über den Kopf, aber auch in die Gesäßtasche greifen. Wir sind in der Lage filigrane Arbeiten im Blickfeld direkt vor dem Körper zu verrichten, schwere Gegenstände zu heben oder einen Ball extrem präzise und zugleich schnell zu werfen. Diese Eigenschaften haben dem Menschen in der Entwicklung einen Vorteil gegenüber den Primaten verschafft, der letztlich auch den Weg der Evolution mit beeinflusst hat.

 

Faszinierendes Gelenk Schulter

Fragiles Gleichgewicht

Die Schulter ist ein echter Alleskönner. Aber diese Vielseitigkeit wird durch ein fragiles Gleichgewicht zwischen Beweglichkeit und Stabilität, zwischen Kraft und Präzision und zwischen Beschleunigung und Verzögerung erkauft. Die ausgereizte anatomische Bauweise ermöglicht die exakte Positionierung und Beschleunigung des Armes, sowie eine erstaunliche Kraftentwicklung. Durch die Position des Schulterblattes hinten auf dem Brustkorb und die extrem „offene“ Bauweise des eigentlichen Schultergelenkes mit einer relativ kleinen Gelenkpfanne und einem vergleichsweise sehr großen Oberarmkopf wird der enorme Bewegungsumfang möglich. Die passive Führung des Gelenkes wird vor allem von der Kapsel und den Bändern gewährleistet.

 

Schmerzen in der Schulter unbedingt abklären lassen.
Schmerzen in der Schulter unbedingt abklären lassen.

Manschette für Kraft und Stabilität

Die sogenannte Rotatorenmanschette umfasst das Schultergelenk. Vier Sehnen der großen Muskeln des Schulterblattes setzen am Oberarmkopf an und erlauben durch ihr koordiniertes Zusammenspiel die Bewegung des Gelenks: Rotation, Anheben des Armes nach vorne, hinten und seitlich. Zudem hat die Sehnenmanschette eine aktiv-stabilisierende und zentrierende Wirkung im Schultergelenk. Der Sehnenanteil der Rotatorenmanschette ist relativ schlecht durchblutet und deshalb anfällig für Abnutzungserscheinungen. Die Sehne wird mit zunehmendem Alter spröder. Schon durch minimale Unfälle kann es dann zu einem Einriss kommen. Aber auch ganz ohne Unfall kann die Sehne durch Überlastung einreißen, wenn sie schon etwas abgenutzt ist.

Die Schmerzen entstehen dann in erster Linie durch das gestörte Zusammenspiel der Muskel-Sehnen-Manschette, wodurch eine koordinierte Bewegung der Schulter nicht mehr gelingt. Der Oberarmkopf wandert bei Bewegung aus dem Zentrum und stößt am Schulterdach an. Dieses Phänomen ist als „Impingement“ (Einklemmen) weitläufig bekannt. Eine operative Naht der verletzten Sehnen kann die Funktion wieder ermöglichen und somit dauerhafte Schmerzen verhindern.

(In)stabile Führung

Das sogenannte Impingement entsteht nicht nur durch Einreißen der Sehnenmanschette, sondern kann auch bei übermäßig lockeren Gelenken oder schlicht bei einem gestörten Zusammenspiel der Muskulatur auftreten. Dann gibt es keinen strukturellen Schaden als Ursache. Aber auch Knochensporne oder Verkalkungen können den Lauf der Sehne von außen einengen. Die Führung des Schultergelenkes übernehmen ein passiver und ein aktiver Halteapparat. Der passive besteht vor allem aus der Gelenkkapsel und den Bändern. Diese Strukturen unterliegen einer großen Bandbreite an individuell unterschiedlicher Stabilität. Eine krankhafte Instabilität liegt erst vor, wenn sich daraus ein für den Patienten selbst spürbares Problem ergibt, wie zum Beispiel das Auskugeln des Gelenkes. Allerdings kann durch eine etwas erhöhte Mobilität des Gelenkes eine Schmerzsymptomatik ausgelöst werden. Dann ist das bereits angesprochene sensible Gleichgewicht von Führung und Beweglichkeit durcheinander gekommen. Schon ein banaler Sturz oder ein heftiges Anschlagen der Schulter kann die Ursache sein. Häufig ist in diesen Fällen eine gute Physiotherapie die Lösung.

 

Links im Bild erkennt man die Schulterpfanne, von deren Oberrand die hier eingeblutete lange Bizepssehne entspringt. Im weiteren Verlauf zieht der Bizeps über den Oberarmkopf und ist stark ausgefasert und eingerissen. Diese Situation kann einen starken vorderen Schulterschmerz auslösen.
Links im Bild erkennt man die Schulterpfanne, von deren Oberrand die hier eingeblutete lange Bizepssehne entspringt. Im weiteren Verlauf zieht der Bizeps über den Oberarmkopf und ist stark ausgefasert und eingerissen. Diese Situation kann einen starken vorderen Schulterschmerz auslösen.

Der „Blinddarm“ der Schulter

Durch die Verlagerung des Schulterblattes von seitlich des Brustkorbes beim Vierbeiner auf den Rücken beim Menschen hat sich die biomechanische Funktion der langen Bizepssehne nahezu vollständig erübrigt. Der Mensch benötigt sie nicht mehr um den Arm nach vorne anzuheben – ein Hund könnte ohne sie aber nicht laufen. Trotz des Verlustes der Funktion in der Evolution hat die lange Bizepssehne ein dichtes Netz an Nervenendigungen und ist durch den Verlauf durch das Schultergelenk anfällig für Abnutzung und mechanisch bedingte Entzündungen. So wird sie zu einer wesentlichen und häufigen Schmerz­ursache der Schulter. Sollten die so ausgelösten Schmerzen länger anhalten und zeigt sich eine Veränderung der Bizepssehne in der Bildgebung, dann ist die Lösung häufig das Ablösen oder Umsetzen des Ursprungs der Sehne an den Oberarm. Erstaunlich aber wissenschaftlich eindeutig belegt bleibt das ohne negative Folgen für Kraft oder Funktion der Schulter oder des Ellenbogens – aber der Schmerz ist weg.

Therapie mit Bedacht

Die fundierte Diagnostik bei Schulterbeschwerden ist nur mit einer umfassenden Untersuchung des Gelenkes und einer guten Bildgebung möglich. Daraus kann man alle Beschwerden entweder auf funktionelle oder strukturelle Ursachen zurückführen und entsprechend konservativ, also mit Physiotherapie, oder eben operativ behandeln.