Leben ala Carte – 1604

Mein Knie schmerzt und keiner weiß wieso

Die wundersame Welt des „Vorderen Knieschmerzes“

A. o. Univ. Prof. Dr. Christian Fink - Genkpunkt
Text: A.O. Univ. Prof. Dr. Christian Fink

Mein Knie schmerzt fast immer, rund um die Kniescheibe am meisten. Beim Bergabgehen und beim Aufstehen nach längerem Sitzen ist es ganz schlimm. Ich habe auch schon eine Kernspinnuntersuchung (MR) gemacht, aber da war anscheinend alles in Ordnung“. Häufig handelt es sich da um eine Patientin zwischen 13 und 20 Jahren, oft in Begleitung verzweifelter Eltern ob der Leidensgeschichte der Tochter. Die Tatsache, dass man in der modernen Bildgebung, sprich MR nichts Problematisches sieht und das Knie trotzdem schmerzt ist doch kaum vorzustellen. Die eigene Tochter gar eine „Simulantin“?

 

Abb 1: Fem: Oberschenkelknochen Pat: Kniescheibe Hof: Hoffa‘scher Fettkörper Men: Meniskus Tib: Schienbein Lig.pat: Patellar Sehne Mquad: Quadricepsmuskel / Abb 2: „Schmerzaufzeichnung“ bei OP ohne Narkose und „zufällig“ diagnostizierter Knorpelschaden Quelle: Scott Dye, San Francisco, USA
Abb 1: Fem: Oberschenkelknochen Pat: Kniescheibe Hof: Hoffa‘scher Fettkörper Men: Meniskus Tib: Schienbein Lig.pat: Patellar Sehne Mquad: Quadricepsmuskel / Abb 2: „Schmerzaufzeichnung“ bei OP ohne Narkose und „zufällig“ diagnostizierter Knorpelschaden Quelle: Scott Dye, San Francisco, USA

 

Hier sind wir mitten in einem der häufigsten Knieprobleme heutzutage. Bis zu ca. 25% der Frauen junger bis mittlerer Altersgruppe und bis zu 10% der Männer sind davon irgendwann betroffen. Manchmal verschwinden die Beschwerden von selbst wieder. Auch hormonelle oder psychische Ursachen werden hier gelegentlich als Ursache diskutiert. Während uns eine Meniskusverletzung heute vor wenig diagnostische und therapeutische Herausforderungen stellt, ist dies beim sogenannten „vorderen Knieschmerz“, (patellofemorales Schmerzsyndrom) etwas anders. Vor den Zeiten des MR‘s haben wir uns etwas leichter getan. Wenn es hinter der Kniescheibe geschmerzt hat, dann gaben wir einem Knorpelschaden die Schuld, an einem Röntgen sieht man diesen ja nicht. Seit wir den Knorpel jedoch „sehen“ können, ist dieser beim patellofemoralen Schmerzsyndrom meist makellos (Abb.1). Was schmerzt hier also?

Zur Antwort auf diese Frage hat uns ein Kollege aus San Francisco sehr geholfen. Er hat einen Selbstversuch gestartet, der ihm zu weltweiter Berühmtheit in der Orthopädiewelt verholfen hat: Er hat einen orthopädischen Freund überredet, ihn ohne Narkose zu operieren. Es wurde nur die Haut mit Lokalanästhetikum im Bereich der 2 kleinen Schnitte, die notwendig sind um Arthroskop und ein Tasthäkchen ins Knie zu führen, betäubt. Seine wichtigsten Erkenntnisse waren: Beim Einbringen vom Arthroskop durch den sog. Hoffa‘schen Fettkörper (Abb.1), eine mit sehr vielen Nervenfasern durchsetzte Struktur, die im vorderen Kniebereich quasi als Stoßdämpfer wirkt, wäre er fast vom Tisch gesprungen vor Schmerzen. Erst mal im Knie war‘s dann nicht mehr „so schlimm“. Während der Operateur die Strukturen wie Menisken, Kreuzbänder und Knorpel mit einem Häkchen betastete, machte er seine Schmerzaufzeichnungen (von 0: kein Schmerz bis 4B: massiver Schmerz). Hoffa’scher Fettkörper: 4 A, Meniskus und Kreuzband: 2, Knorpel: 0, Gewebe innen an der Kniescheibe: 3-4A. Auch ein Knorpelschaden an der Kniescheibe wurde dabei zufällig festgestellt (Er hatte keine Knieschmerzen zum Zeitpunkt der Arthroskopie) (Abb. 2). Auch nach intensiver „Betastung“ dieses Defektes zeigte er keine Schmerzreaktion. Damit hatten wir die Bestätigung dass der Knorpel hinter der Kniescheibe nur selten am patellofemoralen Schmerzsyndrom schuld ist und der häufig verwendet Begriff der „Chondropathia patelleae“ eigentlich nicht mehr verwendet werden sollte. Dagegen bestätigte sich, was wir auch von histologischen Untersuchungen wissen: Innen und außen direkt neben der Kniescheibe ist eine hohe Konzentration an Schmerzrezeptoren zu finden. In sehr viele Fällen kommt es beim patellofemoralen Schmerzsyndrom zu geänderten Zugverhältnissen an der Kniescheibe an der meistens muskuläre Dysbalancen, Muskelschwäche oder manchmal auch anatomische Gegebenheiten schuld sein können. Durch erhöhten Zug im Gewebe kann durch eine Störung der Mikrozirkulation die Sauerstoffversorgung lokal beeinträchtigt werden. Dadurch wiederum werden Substanzen frei, die die Neubildung von Blutgefäßen anregen und damit auch die Neubildung von Nervenendigungen gefördert wird. Die Folge davon ist, dass das Gewebe „empfindlicher“ wird. Eine andere Schmerzursache ist erhöhter Druck im Inneren der Kniescheibe. Besagter Kollege war auch diesbezüglich sehr hilfreich. Etwa 10 Jahre vor seinem Operationsexperiment hat er sich eine Nadel in die Kniescheibe gerammt und Kochsalz hineingespritzt. Nachdem er danach drei Wochen kaum gehen konnte, hatten wir die Bestätigung, dass erhöhter Knocheninnendruck schmerzt! Letzterer entsteht etwa durch Abfluss- oder Durchblutungsstörungen. Alle diese Dinge sehen Sie aber nicht, zumindest nicht in ihren Anfangsstadien, auf einer MR-Untersuchung. Das Wichtigste ist jedenfalls, die Knieschmerzen des Patienten/in immer ernst zu nehmen, genau abzuklären und auch wenn eine bildgebende Untersuchung ergebnislos erscheint, zu verstehen, dass ein Knie trotzdem schmerzen kann. Außerdem ist zu beachten, dass das patellofemorale Schmerzsyndrom eine „Ausschlussdiagnose“ darstellt. Das heißt, nur wenn wirklich keine andere Ursache gefunden werden kann, sollte man diese Diagnose stellen. Die Liste der Differentialdiagnosen ist sehr lang und reicht von wachstumsbedingten Störungen, Durchblutungsstörungen des Knochens, störenden Schleimhautfalten, bis hin zu (sehr seltenen) Knochentumoren. Eine genaue Untersuchung ist auf jeden Fall unumgänglich. Die gute Nachricht ist, dass viele dieser Schmerzauslöser ohne operative Intervention verbessert werden können. Physikalische Therapie mit Muskelkräftigung, vor allem der Hüft- und Oberschenkelmuskulatur kann das Gleitverhalten der Kniescheibe günstig beeinflussen und ist somit immer der erste Ansatz in der Behandlung. Operative Eingriffe müssen sehr gut überlegt und geplant werden und sollten erst nach mehrmonatiger konsequenter Therapie indiziert werden.