Hauptsache verbunden

Social distancing: Eine Themenverfehlung

„1876 erfand Alexander Graham Bell das Telefon, damit wir uns unterhalten können, auch wenn wir in verschiedenen Städten leben. 2007 erfand Steve Jobs das iPhone, damit wir uns nicht mehr unterhalten können, auch wenn wir am selben Tisch sitzen“.

 

Illustration: Peng
Illustration: Peng

Ausgangssperren, geschlossene Geschäfte, Restaurants, Museen, Kinos, Fitnessstudios, keine Veranstaltungen, Versammlungsverbot – allesamt wirksame, notwendige Maßnahmen. „Social distancing“ ist das Gebot der Stunde und klarer Favorit für das Wort des Jahres 2020. Heißer Kandidat für die Kampagne des Jahres ist der Babyelefant. Er erinnert uns daran, mindestens einen Meter Abstand voneinander zu halten.

Es geht also um physische Distanz, nicht um soziale. Ein persönliches Gespräch mit einem Gegenüber, das man in seiner gesamten Ausstrahlung wahrnimmt, ist durch nichts zu ersetzen. Man sieht Mimik, Kleidung, Haltung, man stellt schnell fest, ob man jemand „riechen kann“. Letztlich kann man sein Gegenüber, wenn es angemessen ist, berühren, und somit auch spüren. Dieser Art der Kommunikation müssen wir derzeit entsagen. Körperliche Distanz ist nun sinnvoll und angezeigt. Der Wert des persönlichen Kontaktes wird uns jetzt in vollem Umfang wieder bewusst.

Sozial müssen und dürfen wir uns nicht distanzieren. Denn in seiner Genialität hat der Mensch probate und effektive technische Hilfsmittel erfunden, um zu kommunizieren. Jetzt ist die richtige Zeit, zum Handy zu greifen. Das Telefonieren, eine der sinnlichsten Kommunikationsformen feiert ein Comeback: Eine warme Stimme im Ohr, der Klang der eigenen im Raum, in dem man alleine ist. Man redet über Belangloses, Hauptsache man ist „verbunden“. Auch posten, chatten, skypen ist gerade jetzt angesagt.

Die Meisterschaft der Kommunikation in der pandemischen Krise, besteht darin, näher zusammenzurücken, bei gleichzeitiger Wahrung der nötigen (körperlichen) Distanz. Dabei können die digitalen Medien tatsächlich ihrem Ruf als social media gerecht werden. Das wäre eine große Wiedergutmachung an der Menschheit.

Veröffentlicht in Essay