Leben ala Carte – 1702

Zeit ist immer Gegenwart

Leben à la carte im Gespräch mit dem Autor Michael Köhlmeier.

Für den Physiker ist Zeit Veränderung, für den Biologen Evolution. Für den Betriebswirt ist Zeit Geld. Was bedeutet ZEIT für den Schriftsteller?
Seiten.

Im Gespräch mit ihrem Sohn, Andrée Heller, sagt seine 102 Jahre alte Mutter: Uhren gibt es keine mehr. Können wir daraus etwas lernen?
Ich glaube nicht.

Bei Gesundheit und Geld ist der Idealzustand, dass man so viel davon hat, dass man daran nicht denken muss. Gilt das auch für die Zeit? Ist Zeit die dritte große Währung in unserem Leben?
Die erste.

De facto ist die Zeit eine Konstante. Variabel ist, was wir hinein packen. Nehmen wir uns für einen bestimmten Zeitraum zu viel vor, haben wir Stress, nehmen wir uns zu wenig vor, bedeutet das Langeweile. Zeitknappheit gab es in allen Epochen. Platon, Aristoteles, Goethe, Einstein , Roger Willemsen – sie alle klagten darüber. Haben Sie eine Erklärung?
Mangel an Gelassenheit.

Ist Müßiggang verschwendete Zeit oder eine Disziplin?
„Mit Muße gehen“ – was gibt es Schöneres?

Zu guter Letzt eine Frage an den Mythologen: Wie kam die Zeit auf die Welt?
Ich kenne keinen Mythos, der sich um die Entstehung der Zeit kümmert, davon wird uns nicht erzählt. Das sollte uns zu denken geben. Vielleicht spielt die Zeit erst eine so bedeutende Rolle, wenn man sie zuverlässig und allgemeingültig messen kann. Das geschah erst sehr spät. Von da an wurde der ARBEITSZEIT mehr Aufmerksamkeit geschenkt als dem Produkt der Arbeit. Immer wieder wird der Titan Kronos mit „Chronos“ gleichgesetzt – das ist aber falsch. Einen Chronos gibt es in der Mythologie nicht. Er ist eine Erfindung früher orphischer Theologen. Er hat keine Geschichte, keinen Mythos. Er versinnbildlicht lediglich. Er ist eigentlich eine Allegorie. Wie Thanatos, der Tod, auch er hat keine Geschichte, auch er ist eine Allegorie.

Die ersten ernsthaften Überlegungen zum Thema Zeit hat sich Augustinus gemacht. Zeit ist immer Gegenwart. Die Zukunft wird IN DER GEGENWART antizipiert; an die Vergangenheit erinnern wir uns IN DER GEGENWART. Zukunft und Vergangenheit sind also gedachte Konstruktionen und keine Phänomene der Zeit. Dieser Gedanke ist tröstlich, finde ich, denn er besagt ja auch: Ich bin immer bei mir, und alles, was bei mir ist, ist immer bei mir. Wir sehen: Die Gegenwart ist nicht ein kurzer Zeitabschnitt, sondern ein Zustand – ebenso, wie die Ewigkeit nicht besonders weit ausgewalzte Zeit ist, sondern ebenfalls ein Zustand. So gesehen, können wir getrost Gegenwart und Ewigkeit in eins legen. Und auf einmal bekommt mein Lieblingssprichwort – ein chinesisches – einen schönen Sinn: Wenn du es eilig hast, geh langsam!

Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam?
Michael Köhlmeier, Konrad Paul Liessmann
Erschienen bei Hanser Verlag, 2016 , 224 Seiten, Fester Einband
ISBN 978-3-446-25288-2 , ePUB-Format ISBN 978-3-446-25416-9

Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Michael Köhlmeier, Konrad Paul Liessmann