Leben ala Carte – 1604

Total gesund

Der Philosoph Robert Pfaller im Gespräch mit Leben à la carte über gesundheitlichen Perfektionswahn, Selbstoptimierung und den Versuch, auf gesunde Weise gesund zu sein.


Text: Josef Wiesauer

Wie schaffen wir einen vernünftigen Umgang mit Gesundheit?
Nach meiner Wahrnehmung steigern sich die Menschen in einen gesundheitlichen Perfektionswahn der Selbstoptimierung – der in manchen Ländern durch die neoliberale Politik der Krankenversicherungen begünstigt wird, die die Beitragshöhe von den individuellen Risiken abhängig machen. Wenn Sie dann keinen Sport machen, müssen Sie mehr zahlen; aber wenn Sie zu viel Sport machen, dann auch etc. Sicherlich gibt es manchmal ernsthafte Gefährdungen, die von den Leuten nicht wahrgenommen werden, so wie sie sich andererseits manchmal übertrieben fürchten vor Ungefährlichem. Das ist wohl immer so. Was sich dagegen ändert, sind Stimmungen in der Kultur. Seit etwa zwei Jahrzehnten wird die westliche Kultur permanent heimgesucht von Stimmungen der Panik: Einmal ist das Rauchen tödlich, dann wieder das Fett, dann der Zucker, dann der Alkohol, das Ozon und ich weiß nicht was noch. Man kann hier wahrscheinlich sagen, dass alle diese Paniken schädlicher sind als das, wovor sie sich fürchten.

 

Robert Pfaller, Foto: Jeff Mangione
Foto: Jeff Mangione

 

Ist die Rationalität der Verdoppelung eine Antwort für den Spagat zwischen Bagatellisierung und Pathologiesierung in der Prävention?
Es ist sehr ungesund für die Leute, wenn sie panisch alles tun, um gesund zu sein. Da kommt die Figur der Verdoppelung ins Spiel. Man muss versuchen, nicht auf panische, sondern auf gesunde Weise gesund zu sein. Das bedeutet, anzuerkennen, dass es durchaus gesund sein kann, sich ab und zu etwas Ungesundes zu gönnen. Umgekehrt entstehen durch panisches Gesundseinwollen neue Krankheiten – wie zum Beispiel die Orthorexie, eine Mangelerscheinung, die daher rührt, dass Leute sich ausschließlich gesund ernähren.

Kann Sport den großen Erwartungen in Bezug auf Fitness, Persönlichkeitsbildung, soziale Kompetenz und Volksgesundheit gerecht werden, oder ist er schon jetzt bedeutungsüberladen?
Mir scheint, dass schon jetzt viele Sporteln, bis sie umfallen. Diese zwanghaften Selbstoptimierer, die ständig mit Schrittzählern, Pulsmessern und Schlafperiodendetektoren ihren Körper abtasten. Das scheint mir alles andere als gesund zu sein. Andererseits herrscht Bewegungsarmut – weil große Teile der Bevölkerung eben bewegungsarme Berufe ausüben und danach wohl mehrheitlich zu kaputt sind, um sich noch zu bewegen.

Wie kann man Sport für die Masse attraktiv machen?
Wenn man die Leute zum Sport verführen will, was wohl gut und sinnvoll wäre, dann sollte man ihnen vielleicht auch beibringen, einen Sport gut auszuüben. Ich weiß nicht, wie das jetzt ist, aber in meiner Schulzeit fehlte das völlig. Man ließ die Kinder Fußball spielen, aber man hat ihnen nicht gezeigt, was es bedeuten würde, gut zu spielen. Vielleicht könnte man dadurch die Leute auch ein wenig wegbringen von den Ausdauersportarten wie Laufen oder Radfahren, wo, wie mir scheint, derzeit viele, vom Adrenalin verführt, übertreiben und sterben. Spielerischere Sportarten würden ihnen vielleicht etwas mehr Balance bieten.

Könnten wir den heiligen Ernst des Spiels, vor allem bei Erwachsenen viel mehr zur Beseitigung der Bewegungsarmut einsetzen?
Der Heilige Ernst des Spiels beinhaltet etwas, das den Selbst­optimierern abgeht: Nämlich das Moment der Souveränität. Wenn wir spielen, sind wir nur für uns selbst da, und dienen keinem anderen Zweck. Die Selbstoptimierer machen das Gegenteil: Sie instrumentalisieren sich selbst total – und unterwerfen sich restlos den Anforderungen eines härter gewordenen Berufslebens oder den oft recht willkürlich festgesetzten Normwerten für Gesundheit.

Was wären brauchbare Mittel und Methoden, um eine ausgeglichene Stressbilanz für sich selbst zu schaffen?
Eines der verzwickten Probleme besteht darin, dass die Leute derzeit nicht nur im Beruf Stress haben, sondern sich, um sich davon zu erholen, auch noch mit der Erholung stressen. Wir sind „Genussarbeiter“ (Svenja Flasspöhler) und haben „Glücksstress“ (Peter Plöger). Auch hier handelt es sich wieder um ein Problem mangelnder Verdoppelung: Die Leute versuchen auf angespannte Weise, sich zu entspannen.

Gibt es einen Ausweg aus der völlig überzogenen Dämonisierung von Stress?
Stress entsteht nicht durch Belastung alleine, sondern vielmehr dann, wenn zur Belastung noch ein Faktor hinzukommt, der die Leute daran hindert, der Belastung angemessen zu begegnen. Viele Leute – zum Beispiel Ärzte in den Spitälern oder Lehrende an Universitäten – werden durch hinderliche Berichtspflichten und ungeeignete, quantitative Normwerte daran gehindert, gut zu heilen oder gut auszubilden. Wenn man dagegen eine Tätigkeit so gut ausüben kann, wie sie ausgeübt werden muss, dann erzeugt das keinen Stress, sondern macht Freude, wie Richard Sennett in seinem Buch „Handwerk“ über­zeugend dargestellt hat. Um das zu erreichen, müssten die Bürokratien entmachtet werden, die in den letzten Jahren viele Bereiche unter ihr sachfremdes Regime gebracht haben. Ihre Vorgaben sind der Zusatzfaktor, der verhindert, dass Leute ihre Arbeit so machen, wie sie gemacht gehört.

Unter dem Titel „Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass“ will man sich zwar im Beruf selbstverwirklichen, aber nur von 11.00 bis 16.00 Uhr, keinesfalls am Wochenende, will belesen sein, ohne zu lesen, will seine sportliche Performance zum Statussymbol entwickeln, aber ohne Schweiß und Training. Beobachten auch Sie eine unrationale Erosion von Commitment?
Diese Beobachtungen erscheinen mir sehr treffend. Ich würde ihre Erklärung darin veranschlagen, dass unsere westliche Kultur, wie Richard Sennett und andere bemerkt haben, narzisstisch geworden ist. Alles, was nicht unmittelbar Ich-konform ist, wird nun schnell abgelehnt und verworfen: Dass man üben muss, um etwas zu können; dass man sich anstrengen muss, um etwas zu erreichen; dass sogar die Freuden noch Mühen und Plagen mit sich bringen (zum Beispiel ziehen Partys Schlafmangel und Kater nach sich; und Sex führt oft zu sozialen Komplikationen, unappetitlichen Dingen und Unschicklichem etc.). Wie die Soziologin Eva Illouz schreibt, hat sich auch an der Liebe hier etwas verändert: Im 19. Jahrhundert wurde der Schmerz des unglücklichen Verliebtseins noch als Beweis für die Größe der eigenen Seele – sozusagen lustvoll – wahrgenommen. Heute dagegen fühlt man sich dabei nur noch eklig und fordert den Therapeuten auf, das wegzumachen. Der sogenannte „Kulturkapitalismus“, der die Waren immer stärker mit Erlebniswerten und Atmosphären auflädt, bedient diese Stimmung: Er liefert uns Bier ohne Alkohol, Schlagobers ohne Fett, Sex ohne Körper- wenn nicht sogar ohne Sozialkontakt, und verschafft uns Gefühle von Sportlichkeit durch Turnschuhe, mit denen wir keinen Sport machen, sowie von Freiheit durch Geländewagen, mit denen wir nicht aufs Land fahren. Die grundlegende narzisstische Illusion, die dadurch vorgegaukelt ist, besteht, wie mir scheint, darin, dass man im Leben nicht zu wählen bräuchte und alles zugleich haben könnte: Vollen Genuss ohne jede Komplikation. Statt des totalen Glücks bekommen wir aber in Wahrheit doch meistens nur sehr fade Kompromisse. Jede Wahl, egal wie sie ausgefallen wäre, wäre dem gegenüber wohl besser gewesen. Denn das, was die Dinge attraktiv macht, ist, wie der Philosoph Spinoza lehrte, vor allem der Umstand, dass wir uns um sie bemühen.