Wir haben geweint  und gelacht

Sporttherapiekunde Mag. Kurt Rammerstorfer hat den Fall der Berliner Mauer hautnah vor Ort erlebt.

Der historische Tag selbst, der 9. November 1989 war per se kein Aufreger. Die Presskonferenz, in der Schabowski die Reisefreiheit für die DDR Bürger verkündete und irrtümlich mit dem Zusatz, das gilt unverzüglich, ergänzte, wurde live im DDR Fernsehen übertragen. Das war ungewöhnlich. Das Meeting selbst war eher fad, ich habe es früher verlassen. Ernst genommen hat das vor Ort niemand, denn in der DDR wurde grundsätzlich nur gelogen. Als am Abend um 19.00 Uhr relativ viele Leute auf der Straße waren, war das auch ungewöhnlich. Es gab erste Stimmen, die gesagt haben, es tut sich was in der Stadt: „Wir glauben, es geht auf“. Da habe ich meine Kamerateam zusammengetrommelt und ein Taxi zur Bornholmer Straße genommen. Als wir in der orange beleuchteten Todeszone an der Mauer eintrafen, ging vor uns das Tor auf. Mit der Menschenmenge wurden wir mitgespült und fanden uns in Moabit, in Westberlin, wieder. Wir hatten fast en passant die Weltsensation gefilmt und den historischen Moment erlebt.

 

Mag. Kurt Rammerstorfer

 

Ich beobachtete ein Liebepaar, das ganz in sich versunken, in die Gegenrichtung unterwegs war. Sie haben sich offensichtlich in die DDR verirrt. Später habe ich dieses Paar, weinend vor Freude, wiedergetroffen. Das größte Problem für mich war, wie sollte ich berichten? Es gab kein Handy. An Telefonzellen war kein Herankommen, alle wollten telefonieren. Da habe ich mir um 20 Mark das Hinterzimmer mit Telefon in einer Gaststätte organisiert. Nun konnte ich der Welt die Sensation mitteilen. Die kommenden drei Tage waren die anstrengendsten meines Journalistenlebens. Es gab keinen Schlaf, die Emotionen waren extrem. Wir haben gelacht und geweint. Es war eine unglaublich positive Aufbruchsstimmung. Unsere Beiträge wurden in vielen Ländern, darunter z.B. in Ungarn, gesendet. Klar war, wir erleben gerade Geschichte. Der Ostblock krachte in sich zusammen, die Nachkriegsordnung wurde aufgelöst.

Es begann in Leipzig

Leipzig im September 1989 war eine kaputte Stadt mit kaputten Menschen. Dass Leute samt ihren Balkonen in die Tiefe stürzten, war Sinnbild des Untergangs des alten Systems. Die Umweltverschmutzung hatte ein unvorstellbares Ausmaß angenommen. In der Nähe von Halle gab es den sogenannten „Silbersee“, weil er voll war mit Quecksilber. Die Menschen waren gebrochen. Unter dem Einfluss der katastrophalen wirtschaftlichen Situation, der Perspektivlosigkeit, der fehlenden Reisefreiheit, ist ein ganzes Volk verrottet. Am Ende gab es nur noch Spitzel. Spitzel haben Spitzel bespitzelt. Im Schnitt wurde jeder Bürger von zwei bis drei Personen verraten, darunter oftmals von einem Familienmitglied. Die Montags-Demos vor der Nikolaikirche waren die Geburtsstätte der Revolution. Ich konnte beobachten, wie nach der Messe drei bis vier Leute ein Transparent unter dem Pullover hervorzogen. Sie wurden dann von DDR Schergen niedergerissen und wie Tiere verprügelt. Aber die Bewegung ließ sich nicht mehr stoppen. Aus den Dreien wurden dreißig, am nächsten Montag Dreihundert und so fort. Von Leipzig ist die Bewegung dann nach Berlin übergeschwappt. Dort war dann eine Million Leute auf dem Alexanderplatz. Die große Frage war immer, ob und wann die Sowjets, die eine Riesenarmee vor Ort hatten, schießen würden.

Gorbi hilf uns

Zwei Wochen vor dem Mauerfall, bei der 40-Jahr Feier der DDR mussten zum letzten Mal hunderttausende Bürger Erich Honecker zujubeln. Am Abend war es am Alexanderplatz gespenstisch ruhig. In „Erichs Lampenladen“ (so hieß der immer orange angeleuchtete Palast der Republik im Volksjargon) fand das Galadiner mit Gorbatschow statt. Nach und nach kamen Leute, zündeten Kerzen an und riefen: „Gorbi hilf uns!“ Letztlich wurden daraus Zehntausende. Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit, löste mit dem Befehl, den Platz zu räumen, die schlimmste, menschenunwürdigste Prügelei aus, die ich je sah. Schergen in Ledermänteln und Stiefeln und mit Schäferhunden, prügelten die Menschen zu Boden. Umrahmt von Feuerwerk der 40-Jahr Feier. Gorbatschow reiste sofort ab. Am Nachmittag hatte er unter den Linden zu Honecker gesagt; „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.

 

Mag. Kurt Rammerstorfer

Mag. Kurt Rammerstorfer,
Landesdirektor des ORF OÖ, war 1989 Auslandkorrespondent des ORF und erlebte als einziger österreichischer Reporter die Öffnung der Berliner Mauer.