Leben ala Carte – 1803

Die Chillkröte

Der Bürohengst und die Wirbelsäule

Stefanie Riedler, sporttherapie
Text: Stefanie Riedler

Ihr natürliches Umfeld sind die Büroräume. Ihren Arbeitsplatz gestaltet sie sich gemütlich. Sie bewegt sich äußerst ökonomisch, daher platziert sie ihre Arbeitswerkzeuge stets in Griffweite, um keine unnötige Energie zu verschwenden. So erscheint sie für den Beobachter selbst an stressigen Tagen sehr ausgeglichen, bequem sitzend in ihrer Schildkröten-Haltung.

Bei näherer Betrachtung fällt dem geschulten Auge jedoch auf, dass die Muskeln dieser Gattung wenig ausgeglichen belastet werden. Ihre Laute nehmen wir als schmerzerfüllten Hilferuf in Form von Stöhnen und Schnaufen beim Treppensteigen wahr. Ihr Umfeld macht es ihr schier unmöglich eine Ausgleichshaltung einzunehmen. Fernsehen und Computerspielen locken die Chillkröte an und ziehen sie in ihren Bann. In freier Wildbahn beobachtet man sie oft beim verzweifelten Versuch sich durch Strecken und Recken wieder aufzurichten.

 

Die Chillkröte, Dehnen der Hüftbeuger im Kniestand
Dehnen der Hüftbeuger im Kniestand

 

Ein bisschen Chillkröte steckt in uns allen. Nach dem Motto: „Der Tag hat 24 Stunden, und wenn das nicht reicht, nehmen wir halt die Nacht dazu“, bleibt oft wenig Zeit für Ausgleichsport.

Wusste man früher genau wovon der schwer arbeitende Bauarbeiter einen Bandscheibenvorfall bekam, staunen wir heute nicht schlecht, berichtet ein Bürohengst von Ausstrahlungen im selben Bereich. Dass starres Sitzen und einseitiges Belasten unserer Wirbelsäule genauso schädlich sein kann wie der 50kg Zementsack scheint auf den ersten Blick nicht einleuchtend.

Unsere Wirbelsäule ist durch ihren anatomischen Aufbau in der Lage, sowohl mobil als auch statisch zu arbeiten. Wären wir dazu gemacht den ganzen Tag aufrecht zu sitzen, hätten wir keine Wirbelkörper. Ein Stab als Stütze würde genügen. So haben wir aber 5 Hals-, 12 Brust- und 5-6 Lendenwirbel, die, gestützt auf das Kreuz- und Steißbein, dynamische Mobilität zulassen. Unsere Wirbelsäulenmuskulatur, sowie die Rumpfmuskulatur sorgen dafür, dass diese Bewegungen kontrolliert durchgeführt werden können.

 

Dehnen des vorderen Oberschenkels

 

Die Brustwirbelsäule, zentraler Baustein unserer Anatomie, befindet sich in einer Kyphose (Beugung). Durch längere sitzende Position wird diese noch verstärkt und durch zu wenig ausgleichende Bewegung rigide. Die abgestützten Ellbogen am Schreibtisch und die Hände an der Tastatur bringen die Schultern nach vorne und lassen auf Dauer unsere Brustmuskulatur verkürzen. Die Gegenspieler am Rücken, welche die Schulterblätter am Thorax fixieren sollten, werden überdehnt und durch zu wenig Beanspruchung insuffizient. Da unsere Augen das Bestreben haben, geradeaus zu sehen, müssen wir, um nach oben zum Bildschirm zu sehen den Kopf nach hinten legen und so in eine Streckposition bringen. Der Kopf schiebt sich nach vor. Die typische Schildkrötenhaltung entsteht. Nicht selten berichten Betroffene auch von dem Gefühl, dass die Brustwirbelsäule steif sei und sich ihre Muskeln wie ein Panzer anfühlen. Als Folge dieser Stellung verkürzen sich die kurzen Nackenmuskeln, die vorderen Halsfaszien werden zu wenig benutzt und überdehnen. Wichtige Strukturen zur Versorgung des Gehirns verlaufen hier. Ist zum Beispiel der venöse Abfluss durch eine Verspannung dieser Muskeln gestört können ziehende Kopfschmerzen und ein Druckgefühl hinter den Augen beim Vorbeugen die Folge sein. Mit dem Faktor Zeit verkürzen, wie gesagt, die Brustmuskeln und ziehen unsere Schultern nach vorne. Die optimale Durchblutung der Arme kann dadurch ebenso beeinträchtigt werden, wie die nervale Versorgung. Kribbeln und Einschlafen der Finger treten hier häufig auf. Diagnosen wie Bandscheibenvorfall, Thoracic Outlet Syndrom und Maushand sind der Chillkröte geläufig.

Eine Etage tiefer befinden sich die Hüften beim Sitzen immer in gebeugter Position. Der Hüftbeuger-Muskel neigt, wie auch der Brustmuskel, zur Verkürzung und sein Gegenspieler der Hüftstrecker, die Gesäßmuskulatur, verkümmert. Auf längere Sicht wird die Hüftstreckung eingeschränkt und das Gangbild leidet darunter, im Sinne einer verkürzten Schrittlänge. Bei älteren Personen kann dieses Phänomen deutlich beobachtet werden. Folgen der einseitigen Belastung der Lendenwirbelsäule kann, wie auch oben bei der Halswirbelsäule, Verspannungen und in weiterer Folge Irritation der Nerven durch die Bandscheibe sein. Diese Symptome treten dort auf, wo der Körper die zu geringe Beweglichkeit in der Brustwirbelsäule ausgleichen will.

Um einen optimalen Ausgleich zu schaffen ist es wichtig, die verkürzte Muskulatur zu dehnen (Brustmuskulatur, Hüftbeuger) und die zu wenig beanspruchte Muskulatur (Schulterblattfixatoren, Gesäß- und Rumpfmuskeln) zu kräftigen. So kann uns selbst eine Flut an E-Mails nicht aus dem Gleichgewicht bringen.